Bedürfnisse im täglichen Leben
Auch wenn wir im Alltag nicht abstrakt über unsere Bedürfnisse nachdenken oder sie ständig wahrnehmen: Bedürfnisse steuern uns Menschen jede Sekunde des Lebens.
Ganz grundlegend lässt sich unterscheiden: es gibt einerseits körperliche Bedürfnisse und andererseits emotionale, psychische und seelische Bedürfnisse. Bedürfnisse sind für das individuelle Überleben absolut notwendig. Um dieses „Ziel Überleben“ zu erreichen, beeinflussen Bedürfnisse deshalb ganz automatisch und zunächst größtenteils unbewusst Wahrnehmung und in der Folge Denken, Fühlen und Handeln.
Ganz wesentliche Bedürfnisse sind zum Beispiel Sicherheit und Zugehörigkeit – nicht selten gibt man dafür sogar andere Bedürfnisse auf, die vermeintlich leichter entbehrlich sind. Dazu hier mehr.
In meiner Arbeit berücksichtige ich hauptsächlich die weiterführende Bedürfnis-Theorie meiner verstorbenen Mentorin Dr. Evelin Kroschel-Lobodda.
Diese Theorie entstand aus ihrer Beobachtung, dass sie die Bedürfnis-Theorie von Maslow (bekannt als Bedürfnispyramide) nicht als vollständig stimmig in ihrer täglichen Arbeit als Therapeutin und Coach wiederfinden konnte. Statt – vereinfacht gesagt – „Bedürfnisse bauen aufeinander auf oder auch wenn A erfüllt ist, folgt B“, fand sie eher eine Gleichzeitigkeit mehrerer Bedürfnisse. Wie zum Beispiel in einer bestimmten Situation X den Wunsch nach Sicherheit, Verlässlichkeit, Zugehörigkeit, Wertschätzung und Freude gleichzeitig und nebeneinander.
Bei näherer Betrachtung fiel ihr außerdem auf, dass sich Bedürfnisse in gegensätzlichen Gruppen einteilen lassen, wie zum Beispiel das Bedürfnis nach Zugehörigkeit und Gemeinschaft versus dem Bedürfnis nach Autonomie und Individualität. Warum also nicht auch generell Bedürfnisse in Polaritäten darstellen statt in einer Pyramide? Analog zu unserem menschlichen Dasein im Alltag: wir alle kennen die Pole warm-kalt, hell-dunkel, nah-fern, etc.
Also ging sie auf die Suche nach einem Modell, dass ihre Beobachtungen besser beschrieb und damit auch Kränkungsdynamiken – ein weiteres Forschungsgebiet von ihr – genauer erfasste.
Nach langen Jahren Forschung entstand das Motivrad © als Darstellung einer neuen Bedürfnistheorie.
Die Bedürfnistheorie nach Dr. Kroschel
In der Grafik finden Sie eine vereinfachte Darstellung des Motivrads.
Die Grundlagen sind intuitiv verständlich. Und doch geht es mir heute (nach fast zwanzig Jahren intensiver Beschäftigung) immer noch so, dass ich weitere neue Aspekte in der Tiefe des Modells finde. Also geben Sie sich gerne Zeit, in Ihre eigenen Gedanken dazu einzutauchen.

Der Aufbau des Modells
Im äußersten Ring finden Sie körperliche Bedürfnisse und Voraussetzungen. Diese sollen hier nur der Vollständigkeit halber erwähnt sein. Der Ort, wo sie im Modell in Bezug auf den zweiten Ring stehen, hat keinerlei zusätzliche Aussage. Wer tiefer einsteigen möchte, kann das im Buch von Dr. Kroschel tun. Eine Rezension und wichtige Bestelldaten finden Sie hier.
Im zweiten Ring finden Sie emotionale/psychische/seelische Bedürfnisse. Auf diese gehe ich weiter unten noch ein.
Der dritte Ring beinhaltet zwei sehr grundlegende Bedürfnisse, die einzeln oder gemeinsam den zweiten Ring ergänzen.
Im Mittelpunkt befindet sich das, was landläufig „in seiner Mitte sein“ genannt wird.
Was Sie zum Motivrad allgemein wissen müssen
Für ein gesundes und ausgeglichenes Leben ist es wichtig, alle Bedürfnisse – je nach Situation – flexibel auf die jeweils passende Art zu befriedigen. Es hilft enorm, wenn Sie ein paar Grundlagen zum Thema Bedürfnisse kennen und anwenden können. So entsteht nach und nach ein Gleichgewicht, eine innere Balance.
Dabei ergänzen und bereichern sich die unterschiedlichen Bedürfnisse in ihrer natürlichen Form gegenseitig. Das Leben wird friedlicher, reich und bunt.
Jedes einzelne Feld des Modells (= Bedürfnis) existiert im Geben und im Nehmen. Geben und Nehmen sollten ebenfalls einigermaßen im Ausgleich sein. Sowohl im Innen (vereinfacht: wie begegne ich mir selbst), wie auch im Außen (wie begegne ich anderen).
Alle Felder sind grundsätzlich gleichwertig und tragen zu einem reichen, zufriedenen Leben bei – jedes aus einem anderen Blickwinkel. Dennoch entstehen oftmals Wertungen (Bevorzugung/Abwertung) durch kulturelle, geschichtliche, soziologische und gesellschaftliche Prägungen. Sollten Sie diese Wertungen verinnerlicht haben und es passt für Sie nicht mehr, können Sie sich mit Hilfe verschiedener Herangehensweisen auch wieder daraus befreien. Das Motivrad leistet hier gute Dienste, um einerseits Blockaden und Prägungen leichter zu erkennen, aber auch die eigenen Wünsche besser in Worte fassen zu können.
Je nach Situation können auch mehrere Bedürfnisse gleichzeitig und sogar gleich wichtig existieren. Ein Beispiel: Sie treffen sich mit Freunden zum Kochen und anschließenden Spiele-Abend. Beim gemeinsamen Brettspiel wollen Sie unbedingt gewinnen. Beteiligt sind hier die Bedürfnisfelder Gemeinschaft, Freude/Genuss, Selbstwert und Wirksamkeit.
Wenn einzelne Bedürfnisse zu stark im Vordergrund stehen und der natürliche Gegenpol ausgeblendet oder sogar verachtet wird, bewegen wir uns in einer Einseitigkeit, die auf Dauer mehr schadet. Man nennt das dann fixierte Bedürfnisse. Auf diese Besonderheit gehe ich in einem weiteren Artikel noch ein.
Der zweite Ring – Die Bedürfnisfelder im Kurzüberblick
Nun tauchen wir ganz grob und beispielhaft in die Bedürfnisfelder ein, damit Sie einen ersten Überblick bekommen.
Jedes Feld ist eine Sammlung an Begriffen, die bei genauer Betrachtung doch den selben Fokus haben. Dabei kratzen wir natürlich noch nicht mal richtig an der Oberfläche. Forschen Sie gerne selbst noch dazu, um ein besseres Gefühl zu den einzelnen Bereichen zu bekommen.
Bindung/Gemeinschaft
Ganz platt gesagt: Menschen sind Herdentiere. Immer dann, wenn Ihnen andere Menschen und deren Meinung wichtig sind, leben Sie den Wunsch nach Zugehörigkeit und damit den Gemeinschaftspol. Ein ganz wesentliches Grundbedürfnis.
Freiheit/Individualität
Sie wollen eigene Entscheidungen treffen. Unabhängig sein und ihren eigenen Weg gehen. Dorthin reisen, wo Sie sein wollen. Arbeiten, mit wem Sie wollen. Lieben, wen Sie wollen. Die Möglichkeit haben, Ihre Visionen zu verfolgen. Dann bewegt Sie der Freiheitspol.
Sicherheit/Beständigkeit
Vorausschauende Planungen, Berechenbarkeit, Kontrolle, Grenzen, eine feste Struktur (im Leben, in Beziehungen und Gemeinschaften, in Projekten, etc.) wird vom Sicherheitspol dargestellt. Ebenso finden sich hier Institutionen wie z.B. die Polizei oder auch juristische Regelwerke und mehr.
Neuheit/Veränderung
Sie finden es spannend, wenn etwas Neues auf Sie zukommt. Wenn Sie fremde Länder bereisen, andere Kulturen kennenlernen. Ein Seminar den Arbeitsalltag bereichert oder ein neues Projekt gestartet wird. Wenn Sie Ihre Wohnung umgestalten oder neue Kleidung kaufen. Dann befinden Sie sich im Bereich des Neuheitspols.
Anerkennung/Selbstwert
Sie wollen respektiert werden. Ihre Würde oder Ihr Status ist Ihnen wichtig. Sie wollen gesehen werden mit Ihrer Leistung oder einfach nur als Mensch. Sie achten auf sich selbst, weil Sie verstanden haben, dass alles in Ihrem Leben mit und bei Ihnen selbst beginnt. Das ist ein Ausschnitt aus dem Bereich Anerkennung/Selbstwert.
Besitz/Erkenntnis
Es ist Ihnen wichtig, sich etwas zu schaffen. Vielleicht sogar etwas, das bleibt. Dafür erlernen Sie Fähigkeiten. Und wollen Zusammenhänge verstehen. Sie lesen, lernen und aus Ihrem Wissen, Ihren Erkenntnissen und Ideen entsteht etwas. Hier geht es um mehr als nur materiellen Besitz oder auswendig gelerntes Wissen.
Freude/Genuss
Alles, was Sie erfüllt, fällt in den Bereich Freude. Auch lachen, albern sein, Spaß haben. Ein beschwingtes, leichtes Lebensgefühl – unabhängig davon, was es verursacht hat. Sie genießen es, Wohnräume und Garten „schön“ zu machen. Ein gutes Essen, Lust an der Bewegung, spielen mit Freunden, kreativ sein. Und so viel mehr.
Gerechtigkeit/Ideale
Verantwortung übernehmen. Gerechtigkeitssinn. Sich bedanken oder loyal sein. Pflichtbewusst seinen Aufgaben nachkommen. Werte und Moral. Auf den ersten Blick sehr unterschiedliche Bereiche und doch im Kern vereint und auf dem Gerechtigkeitspol zu finden.
Nicht erfüllte Bedürfnisse führen zu Kränkungen. Und Kränkungen können zu Konflikten führen – je nach Prägung, Situation und Persönlichkeit. Mehr dazu finden Sie hier.
Übrigens auch im Innen – wer sich auf Dauer die eigenen Bedürfnisse nicht eingesteht und nicht erfüllt, erschafft sich auf lange Sicht innere Konflikte: „eigentlich möchte ich, aber ich muss doch (erst)…“. Deshalb ist Selbst-Reflexion so wertvoll. Wer sich selbst gut kennt, kann sich besser um sich selbst kümmern. Wer zusätzlich mutig verändert, was nicht mehr passt, erschafft sich selbst ein erfülltes Leben.
Der dritte Ring – Zwei Qualitäten, um in die eigene Mitte zu kommen
Der dritte Ring beinhaltet eine Besonderheit: zwei Qualitäten, die je nach Kontext einzeln oder sogar gleichzeitig und gemeinsam notwendig sind, um im Leben in die eigene Mitte zu kommen.
Wirksamkeit/Macht
Um ihr Leben gestalten zu können und selbst für die Befriedigung Ihrer Bedürfnisse sorgen zu können, dürfen Sie nicht hilflos und ohnmächtig daneben stehen. Sie packen etwas an, kümmern sich, haben eine klare Vorstellung, wie Sie etwas verändern können. Dann leben Sie den Pol Wirksamkeit/Macht.
Hingabe/Gelassenheit
Sie vertrauen ins Leben oder in eine andere Person. Sie können gelassen abwarten, lassen die Dinge auf sich zukommen. Sie gehen ganz in etwas auf. Sie können sich in andere einfühlen. Das sind Teile des Pols Hingabe und Gelassenheit.
Das Zentrum – In der eigenen Mitte sein
Die Mitte ist mit Einheit und Ganzheit benannt. Was bedeutet das?
Wenn Sie sich selbst gut kennen, Sie sich Ihre Bedürfnisse erfüllen können ohne bedürftig zu sein und Sie wirksam und gelassen agieren, je nachdem, was gerade erforderlich ist – dann, ja dann, sind Sie nah dran an einem sehr friedlichen inneren Zustand.
Die meisten von uns werden nur zeitweise in diese Erfahrung eintauchen können. Aber jeder Moment des inneren Friedens ist es wert, immer wieder darauf hinzuarbeiten.
Bedürfnisse erkennen, um Konflikte leichter zu lösen
Sie fragen sich vielleicht, wie Ihnen ein theoretisches Modell helfen soll, Streit zu beenden und Lösungen zu finden.
Ganz einfach: beim nächsten Konflikt, aus dem Sie einfach nicht herausfinden, nehmen Sie das Schaubild zur Hand und überlegen, was Ihnen persönlich so wichtig ist, dass Sie nicht davon ablassen können oder wollen. In welchem Feld/welchen Feldern finden Sie sich wieder?
Und dann überlegen Sie, wo Ihr Konfliktpartner wahrscheinlich steht.
Nun suchen Sie neugierig wieder das Gespräch.
Warum neugierig? Weil Mutmaßungen und falschen Interpretationen à la „Ich weiß besser wie du tickst als du selbst“ die Positionen eher verhärten. Also schnappen Sie sich das Schaubild und erforschen Sie gemeinsam Ihre Bedürfnisse. Neugierig, offen, reines Interesse – keine Wertung, keine Vorwürfe, keine ollen Kamellen. Beginnen Sie damit, was Ihnen an Ihrer eigenen Position neu oder gerade erst klar geworden ist. Und bewegen Sie sich achtsam aufeinander zu.
Leider gelingt das nicht in jedem Fall: Wenn Ihr Konfliktpartner dafür nicht offen ist, bleibt Ihnen nichts anders übrig, als alleine zu forschen. Wobei die Betonung auf forschen liegt – nicht auf urteilen oder Besserwisserei.
Ein einfaches Beispiel, wie Ihnen das Modell im Konfliktfall helfen kann
Ausgangspunkt: Unternehmensnachfolge. Sie sind die junge Generation. Sie wollen etwas verändern (Neuheit), Ihr Gegenüber will bewahren (Beständigkeit). Zwei gegensätzliche Pole – zunächst unvereinbar.
Sie stellen außerdem fest, dass Sie mehr Zeit mit Ihren Kindern verbringen wollen (Freude und Gemeinschaft), da Sie selbst als Kind darunter gelitten haben, dass die Unternehmer-Eltern nicht so viel Zeit für Sie hatten.
Außerdem beobachten Sie schon länger den Markt. So wie bisher wird es nicht mehr lange gut weitergehen. Aber Sie wollen das Familienunternehmen bewahren (Beständigkeit).
Und zack haben Sie die Gemeinsamkeit gefunden!

Von da aus können Sie leichter Lösungen finden, denn Sie stehen sich nicht mehr nur auf gegensätzlichen Positionen gegenüber, die nicht vereinbar sind. Sondern Sie erkennen die Komplexität der jeweiligen Bedürfnisse und gehen aufgrund der Gemeinsamkeiten ganz anders auf Lösungssuche.
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Melden Sie sich gern – persönlich klären wir diese am schnellsten.